Strukturelle Veränderungen und Reformen kommen in der evangelischen Kirche meist dann in den Blick, wenn das Geld knapper wird und eine zukunftsfähige Finanzstrategie entwickelt werden muss. Das ist durch die zurückgehenden Mitgliederzahlen der großen Kirchen, verstärkt durch die Folgen der Corona-Pandemie, derzeit der Fall. Unter Aufnahme der aktuellen Entwicklungen rechnet die EKD mit Einsparungen von bis zu 30% in den nächsten zehn Jahren bis 2030.
Initiativen zur Kirchenerneuerung
Aktuelle Initiativen, die sich mit der zukünftigen Gestalt und Ausrichtung der Kirche beschäftigen, sind daher sinnvoll und wichtig. Sie eröffnen Perspektiven und laden ein zu einer Diskussion über den gemeinsamen Weg in die Zukunft. Beispiele dafür sind das EKD-Papier “Hinaus ins Weite - Kirche auf gutem Grund - Zwölf Leitsätze zur Zukunft einer aufgeschlossenen Kirche”, verfasst von einem Zukunftsteam der EKD, verabschiedet von der EKD Synode im November 2020, und das digitale „EKD-Zukunftsforum“ für die mittlere Leitungsebene mit rund 500 Teilnehmer:innen, das im September 2020 digital getagt hat. Die Leitsätze machen Vorschläge für die zukünftige Struktur und Arbeit der Kirche, das digitale Zukunftsforum #KircheistZukunft begleitet den anstehenden kirchlichen Transformationsprozess. Beide Initiativen lassen sich verbinden mit einer ebenfalls bei der Synode verabschiedeten längerfristigen Finanzstrategie der EKD einer weitergeführten Digitalisierungsstrategie. In damit angestoßenen Prozessen soll geklärt werden, wie sich die Situation der Kirche derzeit darstellt und wohin sie sich entwickeln soll und welche zukünftigen Kernaufgaben und Schwerpunkte gemeinsam verabredet werden können. Die Leitsätze wollen keine fertigen Rezepte bieten, sondern Perspektiven eröffnen und zur Diskussion einladen.
Kritisch zu sehen ist denn auch weniger die in den Leitsätzen enthaltenen Zeitdiagnose, vielmehr die daraus gezogenen Konsequenzen und Vorschlägen, insbesondere im Blick auf den Bereich Bildung. Es scheint, dass die hohe Bedeutung kirchlicher Bildungsarbeit und von Bildung als genuin kirchlicher Auftrag innerkirchlich und öffentlich in den Hintergrund gerät.
In den Leitsätzen wird kirchliche Bildungsarbeit erwähnt im Punkt „Frömmigkeit“ und mit der Weitergabe der christlichen Tradition und der Entwicklung von eigenen und neuen Formen von Spiritualität verbunden. Diese Begrenzung wird einem evangelischen Bildungsverständnis nicht gerecht, das sich am Engagement für eine gerechtere, menschenwürdigere Gesellschaft in der Leitperspektive des Reiches Gottes orientiert. Insbesondere auch dann nicht, wenn die Förderung von Dialogfähigkeit und eigenständiges Urteilen als Zielsetzungen von Bildung genannt werden.
Ein weiterer Hinweis auf die Bedeutung von Bildung findet sich unter dem Punkt „Kirchenentwicklung“, auch wenn sich evangelische Bildungsverantwortung nicht auf den eigenen kirchlichen Bereich beschränken lässt. Sie partizipiert z.B. durch die Mitverantwortung für den Religionsunterricht in den Schulen an einem im Grundgesetz verbürgten staatlich garantierten ordentlichen Lehrfach. Gerade jetzt wird an vielen Stellen deutlich, warum der Religionsunterricht als Teil allgemeiner Bildung unverzichtbar ist. Er bietet einen wichtigen Raum, in dem die existenziellen Erfahrungen der Corona-Krise angesprochen und lebensrelevant bearbeitet werden können.
Darüber hinaus hat die evangelische Kirche mit Kinder- und Jugendarbeit, Konfirmandenarbeit, evangelischen Schulen und der Erwachsenenbildung und durch Initiativen für mehr Bildungsgerechtigkeit Teil an einem öffentlichen Bildungsauftrag auch außerhalb des formalen Bildungsbereiches und ist ein zentraler Bildungsanbieter in der Zivilgesellschaft.
Bildungsgerechtigkeit
Auffallend ist, dass in dem nun vorgelegten Leitsätze - Papier auch das zentrale Thema der Bildungsgerechtigkeit an keiner Stelle thematisiert wird. Erinnert sei deshalb an die EKD-Synode 2010 mit ihrer Kundgebung „Niemand darf verloren gehen!”. Angesichts der wachsenden Ungleichheiten im Bildungsbereich gewinnt die biblisch in der Menschenwürde begründete Forderung nach mehr Bildungsgerechtigkeit an Aktualität und Schärfe. Die in der Kundgebung von 2010 benannten Grundsätze dürfen deshalb auch in der aktuellen Debatte nicht aufgegeben werden. Sie verdeutlichen, dass Bildung zum Verkündigungsauftrag der Kirche gehört und dass verantwortliches Bildungshandeln auf Anerkennung, Dialog und Mitwirkung setzt. Ebenso unterstreicht die Evangelische Kirche in diesem Text, dass sie ihren von den reformatorischen Einsichten her begründeten Auftrag sowohl im kirchlichen als auch im öffentlichen Bildungswesen weiterhin konsequent wahrnehmen wird.
Impulse setzen in diesem Zusammenhang auch die jüngsten Stellungnahmen der EKD, so der EKD-Text 134: „Demokratie, Bildung und Religion: Gesellschaftliche Veränderungen in Freiheit mitgestalten“ (Hannover 2020) und die EKD-Handreichung „Kinder in die Mitte!“ (Leipzig 2020). Im ersten Text wird deutlich: Religiöse Bildung hilft, demokratisch zu handeln und kirchliche und öffentliche Perspektiven demokratiebezogener Bildungsarbeit sind in kirchlichen Handlungsfeldern wichtig. Die Handreichung „Kinder in die Mitte!“ verdeutlicht eine evangelisch profilierte und qualitativ hochwertige Arbeit in evangelischen Kindertageseinrichtungen. Kinder brauchen „grundlegende Bildungsprozesse, die sie in die Lage versetzen, in ihrer Welt zu bestehen und für sich soziale Lebenszusammenhänge schaffen zu können“. (S.5)
Der Ratsvorsitzende der EKD, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, hebt im Vorwort zu „Kinder in die Mitte!“ die Bedeutung der Arbeit im frühkindlichen Bildungsbereich hervor: Die Kirche „würde ihren Auftrag verfehlen, hätte sie nicht immer auch das Wohl aller Kinder im Blick. Vor diesem Hintergrund engagiert sich die evangelische Kirche mit annähernd 9.000 Kindertageseinrichtungen mit über einer halben Million Plätzen mitten in der Zivilgesellschaft für Kinder.“
Das „Wohl aller Kinder“ muss im Blick bleiben und damit auch die Orte evangelischen Bildungshandeln „mitten in der Zivilgesellschaft“. Dazu gehört nicht zuletzt das Eintreten für religiöse Bildung gegen Einschränkungen mit Verweis auf die Corona-Pandemie.
Bildung als zentrale Aufgabe der Kirche
Für das Zukunftsforum der EKD hat Dr. Sabrina Müller in ihrem einleitenden Referat für eine Kirche als Erfahrungsraum plädiert, für die Wahrnehmung einer kirchlichen “Bio-Diversität”, die Einheit und Vielfalt gleichermaßen vereint. Für sie sollte Kirche der Zukunft nahbar und erfahrbar sein und auf dem allgemeinen Priestertum aller Glaubenden aufbauen.
Es gehe darum, Menschen zu befähigen, theologisch sprachfähig zu werden und durch Bildung Empowerment und religiöse Sprachfähigkeit zu fördern. Mit dieser Perspektive wird Bildung einmal mehr als zentrale Aufgabe der Kirche formuliert. In einer Zeit, in der Bildung vielfach ökonomistisch verengt verstanden wird, geht es darum, im Bildungsdiskurs „Maße des Menschlichen“ einzubringen und einzufordern und ein umfassendes, ganzheitliches Bildungsverständnis auch in Krisenzeiten konkret werden zu lassen. In dieser Perspektive kann religiöse Bildung, z.B. Schülerinnen und Schülern, dazu verhelfen, sich im Geflecht konkurrierender Geltungsansprüche machtsensibel und machtkritisch zu positionieren.
Daher gilt es, religiöse Bildung auf allen Ebenen innerhalb wie außerhalb kirchlicher Kontexte zu fördern und auch die wissenschaftlich-theologische Reflexion in interdisziplinären Verflechtungen zu stärken. Diesen Aufgaben widmen wir uns am Comenius-Institut, indem wir Orientierungs- und Steuerungswissen zur Verfügung stellen.
(aktualisierte Fassung eines in CI-Informationen Ausgabe 2:2020, S.1-2 erschienenen Beitrages)