Link zum Volltext: CI-Informationen Ausgabe 2/2017
Einstellungen und Überzeugungen der Lehrkräfte werden in verschiedenen Studien als entscheidende Faktoren für eine erfolgreiche Inklusion identifiziert. Einstellungen wirken sich auf die Motivation und auf die professionelle Handlungskompetenz aus und beeinflussen somit die Schulentwicklung und die Unterrichtsgestaltung. (z.B. Heyl u.a. 2014) Auch in der Religionspädagogik sind daher Fortbildungsarbeit zu Einstellungen von Lehrkräften sowie die Weiterentwicklung der Einstellungsforschung wichtige Ansätze, inklusive Bildung zu gestalten und zu begleiten.
Im Folgenden stellen wir ausgewählte Ergebnisse des Forschungsprojekts „Religion in inklusiven Schulen“ vor, das gerade abgeschlossen wurde und demnächst publiziert wird. Im Zentrum des Projektes steht die Rekonstruktion von subjektiven Theorien, handlungsleitenden Wert- und Normvorstellungen und habitualisierter Praxis von Religionslehrer_innen in inklusiven Schulen. Dazu wurden Interviews mit Lehrkräften und Schulleitungen an drei unterschiedlichen Schulen, die sich selbst als inklusiv verstehen, hinsichtlich ihres Verständnisses von inklusiver Pädagogik, religionspädagogischer und bibeldidaktischer Konzeption durchgeführt und mithilfe der Methodik der objektiven Hermeneutik interpretiert. Aus den umfangreichen Ergebnissen greifen wir hier einen Aspekt heraus, der in religionspädagogischen Fortbildungskontexten Anregungen geben könnte, die eigene Haltung zur Inklusion zu reflektieren. Es zeigte sich nämlich, dass sich die Befragten im Blick auf ihre Einstellung und ihr Verständnis von Inklusion in unterschiedlicher Weise am Gedanken der Gemeinschaft oder des Individuums orientieren. Diese Positionierungen werden mit Zitaten aus den Interviews beschrieben.
Gemeinschafts- oder individuumsorientiertes Inklusionsverständnis
Das gemeinschaftsorientierte Verständnis von Inklusion geht davon aus, dass alle Kinder gemeinsam unterrichtet werden, unabhängig von ihrer körperlichen und kognitiven Leistungsfähigkeit. Ein besonderer Blick richtet sich dabei auf die schwachen Kinder: Sie sollen dazu gehören, sie sollen in der Gruppe aufgefangen werden. Dies wird deutlich in einem Interview mit dem Religionslehrer Herrn Reinhart,[1] der erklärt, inwiefern sein Religionsunterricht inklusiv ist: (…) als inklusiven Teil würde ich da sehen, dass alle Kinder in der Gruppenarbeit aufgefangen wurden. Ob sie jetzt Förderbedarf haben oder nicht. Die fitten Kinder hatten ihre Sachen, wo sie dran arbeiten konnten das find ich halt so toll, dass grad in so 'ner Form wie Gruppenarbeit, wo die Kinder sich ja frei dazu geordnet haben zu den Gruppen, dass sie da halt, das jeder eine Part findet, wo er die Aufgabe bearbeiten, kann.
Herrn Reinhard ist es wichtig, dass die inklusiven Lerngruppen so gemischt sind, dass einerseits die „nicht fitten“ Kinder im Rahmen ihrer Lern- und Ausdruckmöglichkeiten am Gruppenprozess partizipieren können, andererseits die Lerngruppe aber auch so arbeitsfähig ist, dass Lernprodukte entstehen können. Entscheidend für gelingende Inklusion ist, dass alle dabei sind und gefördert werden.
In einem anderen Interview wendet sich ein Integrationshelfer an eine Religionslehrerin: Da habe ich gesehen, dass Du sehr wohl ganz genau Leonie [und] (…) Ruth drangenommen hast, die ja… die ihren Förderschwerpunkt… irgendwo haben, und die besonders mit ins Boot geholt. Der Begriff „ins Boot holen“ steht hier als Metapher für Gemeinschaft, in die die Schüler_innen mit Behinderung integriert werden. Es ist wichtig, dass sie dazu gehören, und dies auch deutlich wird, in diesem Fall durch die direkte Ansprache.
Eine spezifische Ausprägung der Gemeinschaftsorientierung zeigt sich vor dem Hintergrund der biografischen Erfahrungen. So sagt die Religionslehrerin Frau Freise, die in der evangelischen Kirche in der DDR sozialisiert wurde: (…) Behinderte gehörten dazu, egal, bei welcher kirchlichen Veranstaltung sie da waren, also es gab überhaupt nie 'ne Diskussion darüber, dass die jetzt irgendwie nicht am Gottesdienst oder wo auch immer teilnahmen. Diese Erfahrung und das Verständnis der inklusiven Gemeinschaft aus der Kirche sind für Frau Freise nach wie vor prägend und werden auf die Schule übertragen, als einer Gemeinschaft, zu der behinderte und nicht-behinderte Schüler_innen gehören. Die Kirche steht mit ihrem Umgang mit Menschen mit Behinderungen, zumal in der Gesellschaft der DDR, in der Menschen mit geistiger Behinderung von der offiziellen Bildung ausgeschlossen waren, vorbildhaft für eine Gemeinschaft, in der alle dazu gehören.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass diese Interviewten unter Inklusion verstehen, dass Menschen mit Behinderungen „dazu gehören“. Ihr Fokus richtet sich darauf, die vormals oder potentiell Ausgeschlossenen als Teil der Gemeinschaft zu sehen und etwas dafür zu tun, dass sie dazugehören. Auch wenn dies nicht immer expliziert wird, zeigt sich, dass dahinter eine Vorstellung von christlicher Gemeinschaft steht, wie sie z.B. in der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen oder in der Leibmetaphorik deutlich wird. Die Religionslehrkräfte denken demnach stark wertbasiert, im Sinne des Mottos: Keiner darf verloren gehen. Jeder gehört dazu.
Betrachtet man dieses gemeinschaftsorientierte Inklusionsverständnis aus der Perspektive inklusiver Schulentwicklung so sind es die Religionslehrkräfte, die die Menschenbild- und Wertdimensionen im Kontext schulischer Entwicklungsprozesse repräsentieren und immer wieder thematisieren. So gesehen hätten der Religionsunterricht und die Religionslehrkräfte eine wichtige Funktion in der Plausibilisierung inklusiver Schulentwicklungsprozesse. Religionslehrkräfte könnten dann als wichtige Ressource für die Schul- und Unterrichtsentwicklung gesehen werden.
Dem an der Gemeinschaft orientierten Verständnis von Inklusion steht ein pädagogisch oder didaktisch-methodisch orientiertes Verständnis von Inklusion gegenüber. Deutlich wird diese pädagogische Haltung in folgendem Statement einer Schulleiterin zu Inklusion: Menschen sind verschieden. Kinder sind verschieden, entwickeln sich verschieden schnell, kommen aus unterschiedlichen Familien und haben unterschiedliche Anlagen, Interessen, Freuden, Hemmnisse, Beeinträchtigungen, aber auch Genialität. Und wenn man inklusiv sein will, dann muss man diese Verschiedenheit in den Blick nehmen und darauf reagieren.
Frau Meyer bezieht Inklusion auf die Verschiedenheit der Menschen. Dabei betont sie nicht die Gemeinschaft der Verschiedenen, sondern richtet den Fokus auf die Unterschiedlichkeit der Kinder. Sie verweist auf unterschiedliche Zeitverläufe in der Entwicklung, auf unterschiedliche Herkunftsmilieus und auf unterschiedliche Anlagen und Begabungen, die sie differenziert aufzählt als Anlagen, Interessen, Freuden, Hemmnisse, Beeinträchtigungen. Inklusion bedeutet dann, die Heterogenität als Voraussetzung von Schule und Unterricht ernst zu nehmen und didaktisch-methodisch umzusetzen.
Dieser didaktisch-methodische Ansatz wird auch in einem anderen Interview mit einer Deutschlehrerin deutlich. Auf die Frage, was für sie inklusiver Unterricht sei, antwortet sie: (…) Nämlich zu gucken, wie weit kommt der [Schüler]? Ist es das, was er leisten kann? Oder muss ich ihn noch ein bisschen stupsen? (…) dann bin ich als Lehrer wieder mal dran und sag ‚Du guck mal, den Bereich hast Du Dir auch vorgenommen. Wie sieht's aus? Heut haste noch mal und morgen noch mal. Mach mal da noch mal dran‘. Das heißt, das alles im Blick zu haben und zu dokumentieren, das ist dann die Aufgabe des Lehrers (…)
Auch hier wird von den Fähigkeiten und Interessen der Schüler_innen ausgegangen. Aufgabe der Lehrkraft ist es, den Lernprozess der Schüler_innen zu dokumentieren und sie beim Lernen zu fördern und zu begleiten (stupsen). Als Lernstrategie soll das Anforderungsniveau x+1 gewählt werden, so dass Schüler_innen immer etwas über ihrem derzeitigen Niveau motiviert werden. Damit stehen die Individuen mit ihren Lernmöglichkeiten im Vordergrund. Das „Wir“ wird entweder vorausgesetzt (alle sind verschieden/ alle sollen gemeinsam unterrichtet werden) oder es tritt in den Hintergrund, weil es um die individuelle Förderung geht.
Schließlich lässt sich auch ein Inklusionsverständnis finden, das Gemeinschaft und Individuum verbindet. So erläutert die Religionslehrerin Frau Bärwald ihr Verständnis von Inklusion folgendermaßen: Wir sind immer als Gruppe für das verantwortlich, was als Gruppe passiert. Also, es gibt immer Phasen, grade so morgens Lesen, Schreiben, Rechnen, da werd ich ziemlich für mich selber, weil es da um meinen Weg geht, wie ich das lerne in meinem Tempo, wie sehr ich auch Anschauungsmaterial brauche, wie abstrakt ich das kann. Und dann gibt es aber - grad im vernetzten Unterricht - Dinge, die machen wir als Gruppe. Und da haben wir unser Ziel erreicht, wenn wir es als Gruppe geschafft haben. Und wenn jeder ein Boot gefaltet hat, ist das super. Und wenn ich drei Boote gefaltet habe und fünf andere Kinder haben aber kein einziges, dann haben wir es nicht hingekriegt. Dann sind WIR gescheitert.
Frau Bärwald bezieht sich sowohl auf die individuellen Lernwege der Schüler_innen, die es zu organisieren und zu begleiten gilt, stellt aber auch die Gemeinschaft als Bezugsgröße dar. Zu einem inklusiven Lernerfolg gehören demnach nicht nur die individuellen Leistungen, sondern auch die Berücksichtigung der gesamten Gruppe, die zum Erfolg kommen soll. Was für den Einzelnen ein Erfolg ist, kann und wird variieren, entscheidend ist, dass alle beteiligt sind und individuell etwas erreichen. Dieser doppelte Erfolg ist die Verantwortung aller. Hier verbindet sich die Orientierung an der individuellen Lernförderung mit dem Anspruch des sozialen Lernens.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die unterschiedlichen Inklusionsverständnisse – gemeinschaftsorientiert, individuumsorientiert, Gemeinschaft und Individuum verbindend – Richtungen anzeigen, die bei einzelnen Lehrkräften vorherrschend sind oder ausschließlich verfolgt werden. Im Schulalltag werden sie vermutlich auch kontextuell variieren. Die jeweiligen Einstellungen zur Inklusion werden in jedem Fall dazu führen, dass unterschiedliche konzeptionelle und didaktisch-methodische Schwerpunkte gesetzt werden. Eine Reflexion des eigenen Verständnisses kann die Zusammenarbeit in der Schule erleichtern und befruchten. Nicht zuletzt eröffnet sie Perspektiven für (kompensatorische) Möglichkeiten der Lehrerfortbildung.