Inklusion ist das bildungspolitische Thema der Stunde. Durch die Ratifizierung der UN-Konvention im März 2009 ist weltweit und auch in der deutschen Bildungs- und Schulpolitik eine Orientierung auf Bildungsgerechtigkeit und Überwindung von Benachteiligung etwa aufgrund von Behinderungen oder sozio-kulturellem Hintergrund gestärkt worden. Das Anliegen der seit mehr als drei Jahrzehnten aktiven Integrationsbewegung, gemeinsames Lernen für alle Kinder zu verwirklichen, wird aufgegriffen. Lösungswege werden gesucht und bereits beschritten.
In der Erziehungswissenschaft wird allgemein zwischen Separation (Sonderschulen), Kooperation (gemeinsame Projekte oder Gebäude) und Integration (gemeinsamer Unterricht von Kindern mit und ohne "Behinderungen") unterschieden. Der Begriff Inklusion entstammt der englischen und US-amerikanischen Diskussion und kennzeichnet eine neue Phase mit dem Anliegen des gemeinsamen Lernens. Die sogenannte Zwei-Gruppen-Theorie (Andreas Hinz), nach der eine Gruppe, etwa "Behinderte", in die andere, etwa "Nichtbehinderte", zu integrieren sei, soll ebenso überwunden werden wie das zielgleiche Lernen. Eine allgemeine Pädagogik ist das Ziel, in der die Unterschiedlichkeit der Kinder und Jugendlichen als Chance wahrgenommen wird.
Werte, darauf hat der Sozialphilosoph Hans Joas hingewiesen, werden gelernt, wenn sie im Alltag begegnen. Bildungspolitisch gewendet heißt das: Es gilt, die Aussonderungen im gegliederten Schulsystem zu beenden und gemeinsamen Unterricht für alle weiter zu entwickeln, unter Einbeziehung der Expertise und Erfahrung der Förderschulen.
Derzeit ist eine Aufbruchstimmung spürbar: Fachzeitschriften und politische Kongresse befassen sich mit Lernen an Differenz, Heterogenität und Bildung oder mit inklusiven Modellschulen. Schulpreise zeichnen inklusiv arbeitende Schulen aus, Netzwerke stärken eine pädagogische Neuorientierung. Wissenschaftliche Untersuchungen und Theorien zum zieldifferenten Lernen und zu Bildungsprozessen, die auf die Unterschiedlichkeit von Kindern und Jugendlichen bauen, werden rezipiert. Neue Studiengänge orientieren sich an Diversity-Studies und Inclusive Learning. Wissenschaftstheoretisch setzt sich neben Diversity der Begriff Intersektionalität inzwischen auch in Deutschland durch. Er bezeichnet den transdisziplinären Versuch, besonders Diskurse, die sich mit Differenzen sowie deren Ein- und Ausschlüssen befassen, aufeinander bezogen weiter zu entwickeln.
Auch die Kirchen greifen die Idee vom gemeinsamen Lernen aller Kinder und Jugendlichen wie das gemeinsame Leben aller Menschen als wichtiges Anliegen auf. Im Herbst 2010 hat sich die EKD-Synode in einem Plädoyer für Bildungsgerechtigkeit "Niemand darf verloren gehen : EKD Evangelisches Plädoyer, 11. Synode 2010" deutlich für inklusive Bildung ausgesprochen: "Bildungsgerechtigkeit ist unvereinbar mit Ausgrenzung - deshalb fordern wir umfassende Neuansätze für eine inklusive Bildung von der Kindertageseinrichtung bis zur Schule für Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderbedarf (…) Die Evangelische Kirche in Deutschland wird diese Reformen und Positionen unterstützen und will ihnen im öffentlichen Bildungswesen zum Durchbruch verhelfen. Sie wird ihre eigenen Bildungseinrichtungen und ihr eigenes Bildungshandeln kritisch überprüfen und entsprechend weiterentwickeln." In den nächsten Jahren kommt es darauf an, diese Vorgaben umzusetzen. Dabei sind Umdenken und kreative Lösungen sowohl in organisatorischer als auch in theologischer wie pädagogischer Hinsicht gefragt.
Die Themen inklusiver Bildung sind vom Comenius-Institut kontinuierlich aufgegriffen worden. So zeigt das "Handbuch Integrative Religionspädagogik" (2002) im Kontext der erziehungswissenschaftlichen und bildungspolitischen Diskussion um die Integration von Menschen mit und ohne Behinderungen Perspektiven für kirchliche Bildung und Arbeit in der Gemeinde auf. Anfang 2011 erschien das Lesebuch "Evangelische Bildungsverantwortung: Inklusion", das aktuelle Texte zur Inklusion im Blick auf kirchliche Bildungsfelder bündelt. In den nächsten Jahren wird Inklusion ein Schwerpunktthema des Instituts sein.
Besonderer Handlungsbedarf ist für den Religionsunterricht gegeben. Wenn ein gemeinsamer Unterricht umgesetzt wird, muss sich auch der RU so verändern, dass er für alle Kinder offen ist. Die Orientierung an der Konfessionalität des RU ist auf diesem Hintergrund fragwürdig. Grenzen zwischen Religionen und Konfessionen treffen unvermittelt auf das gemeinsame Lernen. Organisatorisch und fachdidaktisch ist der RU bisher noch zu wenig in der Lage, das Lernen in inklusiven Gruppen zu ermöglichen. Hier sind neue didaktische Konzeptionen und methodisch reflektierte Modelle zu entwickeln. Hilfreich kann eine Auseinandersetzung mit der konstruktivistischen Didaktik (Kersten Reich) sowie einer Religionspädagogik der Vielfalt sein. Auch können Ansätze der Kompetenzorientierung und der Elementarisierung berücksichtigt werden. Allerdings bedarf es dazu einer Lehrendenbildung, die den Umgang mit Pluralität in fachdidaktischer Hinsicht sowie im Blick auf den Habitus der Lehrkraft entwickelt. Ansonsten wird Inklusion lediglich als zusätzliche Anforderung erfahren. Dass inklusives Lernen auch Entlastungen bereithält, zeigen Modellschulen.
Handlungsbedarf ergibt sich für alle kirchlichen Bildungsfelder. So ist die Entwicklung inklusiver Bildungspraxis auch im Blick auf den Elementarbereich, die Konfirmandenarbeit oder die Gestaltung des Gemeindelebens wichtig. Neben organisatorischen Bedingungen sind auch theologische Traditionen kritisch zu prüfen, die von Exklusion her denken. Ulrich Bach hat in seiner "Theologie nach Hadamar" solche Ausschlussmechanismen in der Kirche untersucht.
Um religions- und gemeindepädagogische Modelle für inklusives Lernen zu entwickeln, sind interdisziplinäre und bereichsübergreifende Projekte und Arbeitsgruppen erforderlich. Das Comenius-Institut wird sich daran beteiligen. Integration und Inklusion im Schnittfeld von Behinderung, Kirche und religiöser Bildung sind seit Jahren zentrale Themen bei dem von CI und Deutschem Katechetenverein veranstalteten Forum für Heil- und Religionspädagogik und den begleitenden Veröffentlichungen.
Mit Vielfalt und Differenz umgehen zu können ist eine Schlüsselqualifikation der Zukunft. Wenn die anspruchsvolle Aufgabe einer inklusiven Bildung gelingen und nicht zu einer vermeintlich Kosten sparenden Versorgung für Kinder mit Behinderungen führen soll, benötigt die Umsetzung finanzielle und personelle Förderung. Die Kirche hat hier die Chance, mitten in der Gesellschaft deutlich zu machen, dass alle Menschen zum Bilde Gottes geschaffen und Teil der Gemeinschaft sind. Der Einsatz für diese Bildung ist zukunftsfähig.
Link
Artikel Inklusion und Bildungsgerechtigkeit, in:
CI-Informationen Ausgabe 2/2010 und
CI-Informationen Ausgabe 1/2011