Der Umgang mit der zunehmenden Heterogenität von Schülerinnen und Schülern ist heute die zentrale Herausforderung der Schule im Allgemeinen wie des Religionsunterrichts im Besonderen. Mehr denn je wird klar, dass die im deutschen selektierenden Schulsystem angelegte homogene, alters- und leistungsgleiche Lerngruppe eine Fiktion ist. Dies gilt nicht nur im Blick auf die Grundschule, die ja schon immer eine Gesamtschule für alle Kinder (mit Ausnahme der Kinder mit Förderbedarf) war, sondern immer mehr auch für die Schularten der Sekundarstufen. Auch in den Gymnasialklassen sind die auf unterschiedlichen Ebenen liegenden Verschiedenheiten nicht mehr zu übersehen. Schülerinnen und Schüler bringen ganz unterschiedliche Lernvoraussetzungen mit und zwar auf kognitiver, motivationaler, sozialer und emotionaler Ebene. Sie bevorzugen unterschiedliche Lernkanäle und realisieren unterschiedliche Intelligenzformen (sprachliche, mathematisch-logische, ästhetische, räumlich-visuelle, kinästhetische etc.) Sie kommen aus kulturell und sozioökonomisch unterschiedlichen Elternhäusern, sie sprechen zuhause unterschiedliche Sprachen, sie bringen differente Wertvorstellungen, Lebensformen und Erziehungsstile mit, sie sind katholisch, evangelisch, freikirchlich, sind religiös kaum sozialisiert, sind islamisch oder alevitisch, atheistisch oder agnostisch erzogen, sind Zeugen Jehovas oder neuapostolisch.
Pluralitätsfähigkeit als Bildungsziel
Angesichts der religiös-weltanschaulichen Vielfalt, der Kinder und Jugendliche heute begegnen, ist es eine spezifische Aufgabe des Religionsunterrichts, zur Entwicklung von Pluralitätsfähigkeit beizutragen. Darauf weist die jüngste Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zum Religionsunterricht (Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule, Gütersloh 2014, Link zum Open Access Dokument) nachdrücklich hin. Heranwachsende sollen durch strukturierte religionspädagogische Bildungsangebote darin gefördert werden, konstruktiv mit der wachsenden Pluralität umzugehen und konstruktive Wahrnehmungs- und Handlungsmuster wie Toleranz, Respekt und die Fähigkeit wechselseitiger Perspektivenübernahme auszubilden. Abgewehrt werden damit nicht-konstruktive Umgangsweisen mit Pluralität, wie z.B. ein Relativismus, der alle Unterschiede nivelliert und gleich-gültig werden lässt, damit aber den Anderen in seinem Anderssein nicht wirklich ernstnimmt. Pluralitätsfähigkeit schützt ebenso vor einem resignativen Rückzug ins Private, der die beunruhigende Vielfalt einfach außen vor lässt wie vor einer fundamentalistischen Einigelung in die eigene Gruppe, die alles, was anders ist als die eigene Gruppe abwertet und bekämpft. Gerade diese Funktion religiöser Bildung in der Schule, einen Schutzwall vor religiös-fundamentalistischer Verengung zu errichten, dürfte angesichts der Ereignisse der letzten Monate kaum über zu bewerten sein.
Christlich-Islamisches Forum Religionspädagogik in Münster
Wie aber bildet sich Pluralitätsfähigkeit heraus? Wohl nur so, dass Menschen mit unterschiedlichen weltanschaulichen und religiösen Perspektiven einander begegnen, sich mitteilen und voneinander lernen. Dies ist das Grundprinzip des Christlich-Islamischen Forums Religionspädagogik, das sich vor drei Jahren in Münster konstituiert hat und in dem die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität, das Zentrum für Islamischen Theologie und das Comenius-Institut als evangelische Arbeitsstätte für Erziehungswissenschaft zusammen arbeiten. Dieses Forum identifiziert jedes Jahr ein Thema, das die katholische, evangelische und islamische Religionspädagogik in gleicher Weise betrifft, bearbeitet dieses Thema zunächst in einer Expertenkonsultation wissenschaftlich-religionspädagogisch und setzt es dann für christliche und islamische Lehrkräfte in einer offenen Fortbildungsveranstaltung um. So wurden bislang die Themen Kompetenzorientierung im evangelischen, katholischen und islamischen Religionsunterricht (Hinweis auf Publikation) sowie eine kritische Sicht auf Lehrbücher für die entsprechenden Unterrichtsformen bearbeitet. Zuletzt ging es um Formen interreligiöser Kooperation im Religionsunterricht.
Dazu wurden einige Schulen eingeladen, die schon seit längerer Zeit Erfahrungen mit Formen interreligiöser Kooperation gesammelt hatten und die ihre Modelle vorstellten. In der Diskussion und im Vergleich schälen sich zwei Grundmodelle interreligiöser Kooperation heraus, die hier exemplarisch beschrieben werden sollen.
Das Modell religiös-weltanschaulicher Kooperation
Dieses Modell findet sich zum Beispiel in der Drei-Religionen-Grundschule in Osnabrück. Diese Schule wird getragen von den drei Religionsgemeinschaften: der katholischen Kirche, der jüdischen Gemeinde und den islamischen Verbänden in Osnabrück. Die Schülerinnen und Schüler haben verpflichtend Unterricht in ihrer eigenen Religion, der getrennt angeboten wird. Es ist also ein klassischer konfessioneller Religionsunterricht, der vornehmlich die Beheimatung der Kinder in ihrer eigenen Religion beabsichtigt, der aber stets offen ist für die anderen Religionen. Kooperation und Dialog zwischen den Religionen ergeben sich vor allem in der Organisation des Schullebens, also etwa, wenn die Frage ansteht, welche religiösen Feste in der Schule wie gefeiert werden sollen. Wird das Fest (etwa der Schulanfangsgottesdienst) im Modus der liturgischen Gastfreundschaft gefeiert, insofern Kinder und Lehrkräfte einer Religion das Fest in ihrer Tradition vorbereiten und die anderen als Gäste einladen oder im Modus des multireligiösen Festes, bei dem die Angehörigen der Religionen nebeneinander agieren und mit ihren jeweiligen religiös-liturgischen Traditionen das gemeinsame Fest bereichern? Spannend ist auch der Diskurs, wie in der Ganztagsschule die gemeinsamen Mahlzeiten organisiert werden: welche Speisevorschriften haben die Religionen? Welches Geschirr wird benötigt, das den Anforderungen koscherer Speisezubereitung entspricht? In diesem interreligiös angelegten Schulleben werden die Kinder der drei Religionen partizipativ und nachhaltig in den sicher nicht immer konfliktfreien Dialog der Religionen eingeführt auf der Basis der Beheimatung in ihrer eigenen Religion, die sie im Religionsunterricht erfahren.
Die Frage ist, ob dieses Modell so ohne weiteres auf die staatliche Regelschule übertragen werden kann. Zwar geht man in NRW mit der intendierten flächendeckenden Einführung des konfessionellen islamischen Religionsunterrichts durchaus in diese Richtung, aber der Einrichtung von vier parallelen Religionslerngruppen und der interreligiösen Ausgestaltung des Schullebens sind in der staatlichen Schule doch organisatorische und institutionelle Grenzen gesetzt. Konzeptionelle Anfragen an das Modell ergeben sich auch im Blick auf das Konstrukt a) zunächst Beheimatung in der „eigenen“ Religion und b) dann Dialog mit den anderen Religionen. Wissen denn Eltern und Kinder noch um ihre „eigene“ Religion und ist ihnen – vor allem den christlichen – nicht ihre „eigene“ Religion so fremd geworden wie die fremde? Und: kann es in der Postmoderne überhaupt noch so etwas geben wie eine geschlossene religiöse Identität oder ist Identität heute nicht immer fragil, fragmentarisch, wandelbar und unabgeschlossen?
Das Modell des gemeinsamen Religionsunterrichts für alle
Diese Anfragen versucht das zweite Modell interreligiöser Kooperation aufzunehmen. In diesem Modell, das in Hamburg entwickelt wurde, lernen alle Schülerinnen und Schüler mit ihren unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Herkünften gemeinsam in einem Religionsunterricht, der von allen Religionen kollektiv verantwortet wird. Dieser Unterricht versteht sich nicht, wie oft unterstellt wird, als religionskundlicher Unterricht, in dem die Religionen und Weltanschauungen aus der Distanz objektivierend betrachtet werden („learning about religion“), sondern durchaus als konfessioneller RU nach den Bestimmungen des Artikels 7,3 des Grundgesetzes. In diesem Modell geht es um ein Lernen von Religionen (learning from religions), also um die existentielle Auseinandersetzung mit den großen Fragen des Lebens im Kontext der Antwortversuche, die in den verschiedenen Religionen zu finden sind und die im Religionsunterricht durchbuchstabiert, diskutiert und für das eigene Leben fruchtbar gemacht werden. Hier geschieht die Suche nach eigenen religiösen Orientierungen nicht im Rahmen einer konfessionell homogenen Lerngruppe, sondern von vornherein im Dialog und in der persönlichen Begegnung mit Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit. Die eigene religiöse Identität der Schülerinnen und Schüler ist hier nicht Voraussetzung des Dialogs, sondern wird im didaktisch arrangierten Dialog mit anderen religiösen und weltanschaulichen Positionen überhaupt erst entwickelt. Freilich muss man an dieses Modell die kritische Anfrage stellen, ob Kinder, die der Vielfalt und Unterschiedlichkeit religiöser Überzeugungen in dieser Weise ausgesetzt werden, nicht irritiert und überfordert werden.
Dass interreligiöse Kooperation in Zukunft im Blick auf das friedliche Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft immer wichtiger wird, steht wohl außer Frage. Entscheidend ist, dass sich in Kooperationen nicht Religionen abstrakt begegnen, sondern Menschen, die auf ihre je individuelle und biografisch geprägte Weise „ihre“ Religion repräsentieren. Welche Form interreligiöser Kooperation darüber hinaus die geeignete ist, wird wohl vor Ort, in der Region, in der Schule zu entscheiden sein.
Rückblick zur Tagung "Interreligiöse Kooperation im Religionsunterricht 2015 : Praktische Impulse zur Zusammenarbeit im evangelischen, katholischen und islamischen Religionsunterricht" in Münster.
Rainer Möller