Konzeptwerkstatt: Familie – die Pflegestation der Republik

Die Sorge für alternde und pflegebedürftige Angehörige ist das Familienthema der Zukunft, doch diesbezügliche Unterstützungsangebote und Netzwerke bleiben rar und sind sogar im Rückgang begriffen. 84% der Pflegebedürftigen werden zuhause versorgt (und dort nur 21% mit ambulanter Unterstützung, durchschnittlich dann eine halbe Stunde am Tag), wobei sich die familiäre Verantwortung längst nicht in der Pflege im engeren Sinne erschöpft. Die Sorge beginnt auch nicht erst mit der amtlichen Pflegestufenanerkennung, bereits eine sich anbahnende Beeinträchtigung und Angewiesenheit von Angehörigen wirft komplexe Fragen auf, stellt Gewohntes und Lebensentwürfe in Frage, verändert den Umgang mit der Herkunftsfamilie. Generell sehen sich Familien mit Sorgeverantwortung für ältere Angehörige mit mehreren sozialstaatlichen Problemlagen frontal konfrontiert (demographische Schieflage, Fachkräftemangel, Kommerzialisierung sozialstaatlicher Leistungen, unüberwindliche Vereinbarkeitshürden u. a.). Es ist problematisch, die häusliche Pflege verbessern zu wollen und zugleich hinzunehmen, dass die ambulante und stationäre Versorgung immer lückenhafter, unprofessioneller, unmenschlicher beziehungsweise immer aufwendiger, teurer und privilegierter wird.

In Anbetracht der lebensweltlichen Bedeutung und gesellschaftlichen Brisanz der Pflege-Thematik stehen Evangelische Familienbildungseinrichtungen weniger vor neuen Zusatzaufgaben, vielmehr bietet sich ihnen eine weitreichende programmatische und institutionelle Perspektive. Im Rahmen ihres Angebotsspektrum zu diversen Care-Fragestellungen sind vor allem sie in der Lage, die Sorge für pflegebedürftige Angehörige nicht isoliert und enggeführt aufzugreifen, sondern als ein integraler Bestandteil lebensbegleitender Bildung. Sie verstehen es, existentielle, emotionale und soziale Fragen von Familien im Zusammenhang mit häuslicher Sorge zu berücksichtigen, auf sie ein Augenmerk zu legen.

Zentrale Ergebnisse der Konzeptwerkstatt lauten:

  • Konzeptionell fruchtbar ist es, thematische Nahtstellen in bereits bestehenden Programmen zu nutzen (generelle oder spezielle Wohnfragen, Altersfragen, Pflegefragen, Trauerfragen u. a.).
  • Familien, die für pflegebedürftige Angehörige sorgen, sind verstärktem Armutsrisiko ausgesetzt. Insofern Familienbildung kein Privileg sein soll, braucht es daher für die von Armut bedrohten oder bereits betroffenen Familien barrierefreie und insbesondere kostenfreie Formate.
  • In Zusammenarbeit mit Unternehmen, Gemeinden, Apotheken, Medien, Museen, Kinos, Kommunen und Universitäten sind wenig aufwendige (digitale) Angebote mit hoher Resonanz zu entwickeln. Über solche allgemeinen Informationsangebote lassen sich dann erweiterte, vertiefende, körperbezogene, anspruchsvollere Angebote lancieren.
  • So normal es ist, sich über Fragen der Gesundheit und Heilung auszutauschen, so schwer fällt es, über Gebrechlichkeit und Sterben zu sprechen. Jedoch läuft die Sorge um alternde Angehörige unweigerlich auf Verluste und Abschiede hinaus. Die Familienmitglieder erleben dies in der Regel als anhaltenden, arg kräftezehrenden Ausnahmezustand und drohen darüber ratlos, betrübt, aggressiv zu werden. Gefragt sind daher religiös sprachfähige Familienbildungseinrichtungen, die darauf achten, dass Trauergefühle sich nicht erst nach dem Tod einstellen.
  • Das kirchliche Engagement für Familien mit pflegebedürftigen Angehörigen bleibt überschaubar. Die Gemeinden sind von den zunehmenden Sorgeverpflichtungen in ihrer ehrenamtlichen Arbeit vor allem betroffen, werden kaum aktiv für Betroffene.
  • Familienbildungseinrichtungen können bereits bestehende Konzepte und Materialien zur Wissensvermittlung nutzen, sie sind in erster Linie aber gefragt, dieses Wissen konzeptionell in Hinblick auf Erfahrungsaustausch, soziales, emotionales Lernen, Engagement und Empowerment zu erweitern.
  • Je anspruchsvoller die Pflegeanforderungen werden, umso weniger Kapazitäten bleiben den Familienmitgliedern für gewiss hilfreiche Bildungs- und Beziehungsangebote. Die Angebote können daher nur mit Betreuung und Entlastung einhergehen und müssen in unterschiedlichem Maße auch Erholung und Regeneration bieten.
  • Umso präventiver Angebote zur Sorgeverantwortung für alternde Angehörige angelegt werden, desto schwerer fallen Zielgruppenbestimmungen. Dabei ist gerade eine Mischung von Teilnehmenden in unterschiedlichen Lebenslagen, Lebensaltern, Familienkonstellationen, mit unterschiedlichen Erfahrungen und Vorstellungen, hilfreich, um Lerngeschehen in Gruppen pädagogisch zu gestalten.   
  • Angehörige wollen keineswegs nur oberflächlich, sachlich oder nur dialogisch über Fragen im Zusammenhang mit ihrer Pflegeverantwortung sprechen. Allerdings braucht es für lebendige Lern- und Beziehungsdynamiken in Gruppen pädagogische Anleitung und Rahmung, vor allem eine vertrauensvolle Atmosphäre und flexible Zeitfenster für narratives, biographische, emotionales Sprechen.
  • Pflegende Angehörige müssen viel Ausdauer aufbringen, sie müssen lernen, mit immer schwierigeren Situationen umzugehen und verfügen über ein breites Erfahrungswissen. Dieses Wissen lässt sich im besten Fall von Bildungseinrichtungen aufgreifen und multiplizieren oder im Rahmen gemeindlicher oder kommunaler Partizipationsformate den (Kirchen-)Ämtern und der (Kirchen-)Politik zur Verfügung stellen.

Die EEB-Fachgruppe Familienbezogene Erwachsenenbildung bedankt sich bei allen Impulsgebenden und Teilnehmenden der Konzeptwerkstatt für die intensive und konstruktive Diskussion. Sie wird die Evangelische Familienbildungslandschaft weiter ermutigen, sich als ein Ort zu profilieren, wo auch die Interessen und Fragen von Familien mit Sorgeverantwortung für ältere Angehörige gesehen und unterstützt werden.

Veranstalter: EEB-Fachgruppe Familienbezogene Erwachsenenbildung

Gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)

Materialien zur Tagung:

Tagungsprogramm

Präsentation Pastor Henning Ernst: Tief im Abseits: Männer in der häuslichen Pflege

Präsentation Dr. Sigrun Fuchs: Landesweit vernetzte Angebote von, für und mit pflegenden Angehörigen

Präsentation Prof. Dr. Sabrina Schmitt: Perspektiven auf die Angehörigenpflege zwischen Prekarität und Potential

Präsentation Birgit Weinmann: Plötzlich ist das Leben von Pflegeverantwortung bestimmt

Präsentation Dr. Stefanie Wiloth: Erwachsenen- und Familienbildung vor neuen Wegen der Unterstützung pflegender Angehöriger